“Kolumbien ist ein Land der extremen Gegensätze. Anders ist auch die wöchentlich stattfindende Ciclovía – die Radstraße – in der Hauptstadt Bogotá nicht zu erklären.“

So sieht es häufig in Bogotá aus: Die Straßen sind durch die vielen Autos zugestaut und mensch kommt kaum voran. Foto: Andreas Gosch
Als ich die Ciclovía 1999 das erste Mal mit eigenen Augen in Bogotá, Kolumbien sah, war mir noch nicht bewusst, welch organisatorische, ökologische und soziale Innovation ich damit erlebte.
Die Forderung meiner Eltern, doch mal auf die Ciclovía zu gehen, fand ich als Jugendliche weniger interessant, obwohl ich zu dieser Zeit immer fleißig mit unserer Labrador-Hündin in unserer Wohngegend im Norden Bogotás spazieren ging.
Erst später wurde mein Interesse an dem sonntäglichen Spaziergang auf den autofreien Hauptstraßen in Bogotá geweckt. Zum einen lag das wohl daran, dass mein Vater inzwischen mehr in die Stadt gezogen war und damit die großen Hauptverkehrsadern einseitig für die Ciclovía für Autos gesperrt waren, was mich mehr beeindruckte, als die kleineren, autofreien Straßen in der Wohngegend, in der wir zuvor gewohnt hatten. Zum anderen ist mir in den Anfangs-2000-er Jahren langsam bewusst geworden, wie außergewöhnlich das wöchentliche einseitige Sperren von Hauptstraßen für Autos in der 8 Millionen Metropole Bogotá war, insbesondere wenn mensch – ich wie – aus dem autoverliebten Deutschland kommt, wo die Straßen bisher ausschließlich den Autos gehören :(.
Nun ärgere ich mich, dass ich nicht viel häufiger auf die Ciclovía gegangen bin. Denn je mehr ich mich mit dem Thema Klimaerwärmung und dessen Entstehung beschäftige, desto mehr weiß ich, dass der auf fossilen Energieträgern basierende Autoverkehr ein erheblicher Verursacher von CO2-Emissionen ist. Zudem wird in Deutschland oft davon gesprochen, dass bereits so viel für den Klimaschutz getan wird, was zutrifft, aber bezüglich des Verkehrs haben wir in Deutschland und Europa im Vergleich zu Kolumbien mit der Ciclovía noch ERHEBLICHEN Aufholbedarf. Denn mir ist mittlerweile sehr bewusst geworden, dass die Kolumbianer und Kolumbianerinnen uns mit ihrer Ciclovía in diesem Punkt MEILENWEIT voraus sind!
Die Radstraße Ciclovía in Bogotá, Kolumbien:
– Jeden Sonntag und an Feiertagen von 7 – 14 Uhr
– über 120 km Straßen werden von hunderten Freiwilligen für den Autoverkehr gesperrt
– über 2 Millionen Bürger und Bürerginnen von Bogotá besuchen die Ciclovía
– Mensch kann dort Rad fahren, spazieren gehen, joggen und Sport machen
(In Bogotá findet zudem auch ein Dia sin Carro – ein autofreier Tag- an einem gewöhnlichen Arbeitstag einmal pro Jahr statt! An diesem Tag dürfen lediglich Busse und Taxen die Straßen benutzen, was – wider Erwarten – rigoros von der Polizei durchgesetzt und kontrolliert wird.)
In Deutschland ist schon die Vorstellung, den Raum des “heiligen” Autos auf der Straße etwas einzuschränken eine Todsünde :(, obwohl es ja bereits gelebte Möglichkeiten gibt, die öffentlichen Straßen zumindest für einige Stunden in der Woche anders, AUTOFREI, zu nutzen wie Kolumbien es vormacht, und dass in einem sogenannten “Entwicklungsland”!
Die sonntägliche Öffnung der Straßen in Bogotá und anderen Städten Kolumbiens hat zudem unvorstellbare Vorteile, die mensch wohl kaum durch andere Integrationsmaßnahmen in einem Land mit sehr großen sozialen Unterschieden hätten erreichen können. So ist es sehr faszinierend zu sehen, wie jeden Sonntag von 7 – 14 Uhr eine Art Volksfest ohne Alkohol, auf den über 140 km autofreien Straßen in Bogotá stattfindet. Es werden frisch gepresste Säfte an den Straßen verkauft, es gibt gratis Sportkurse, mensch kann sein Rad reparieren lassen. Außerdem gibt es Trinkschalen mit Wasser für Hunde, die gern auf die Ciclovía mitgebracht werden.
Der entscheidende Punkt bei der Ciclovía in Bogotá ist, dass 2 Millionen Bogotáner und Bogotánerinnen aus jeder sozialen Schitt gemeinsam mit ihren Freunden oder Familien – Alt und Jung, Arm und Reich – friedlich auf den autofreien Straßen gehen, laufen oder mit dem Rad fahren. Menschen aus dem reichen Norden der Stadt kommen in den ärmeren Süden Bogotás und anders herum. Zudem haben viele westliche Länder Probleme mit Übergewicht in der Bevölkerung, in Bogotá erholen sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Ciclovía freiwillig an der frischen Luft und tuen dadurch etwas für ihre Gesundheit.
Kurz und gut: WORAUF WARTEN WIR NOCH?
Holen wir die Ciclovía nach Berlin, Deutschland und Europa!
Sperren wir die Straßen – zumindest zeitweise – für den lauten und stinkenden, CO2-intensiven Autoverkehr!
Lernen wir unsere Städte anders kennen, indem wir auf den Straßen spazieren gehen, Rad fahren und auf autofreien Straßen joggen! Erholen wir uns an der frischen Luft. Schlagen wir neue und autofreie (Rad)Wege ein!
Video Nr. 1 über die Ciclovía: hier klicken.
Video Nr. 2 über die Ciclovía: hier klicken.
Dieses Video gibt einen sehr guten Blick über die Ciclovía.
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Artikel von Molina Gosch, November 2014